Langsam gehe ich den langen Bahnsteig entlang. Es ist kalt, der Himmel weiß und die rostbraunen Gleise führen weit weit bis sie sich im Nebel verlieren, gesäumt vom Gold-Rot-Grau des Herbstes. Kannst du den Wind sehen? Er wirbelt Zeug umher, keine Leute mehr, die Straße bleibt für heute leer. Geh ein Stück mit mir, ich kann dir ein paar Sachen zeigen, lass versuchen, wach zu bleiben, bis die Nacht vorbei ist. (Tua: "Es regnet") In meinem Mp3-Player schreien Tua und Chakuza das Leben an. Ich bin müde, aber fühle, dass ich schlafen nie mehr kann. (Chakuza: "Schwarzer Mann") Ich kann wieder schlafen. Manchmal ein Glas Wein und ein paar Seiten lesen, dann kuschele ich mich in mein dickes Federbett und rufe die Geister meiner Liebe. Der Wein lässt mich bis zum Morgen schlafen. Wenn die Sonne scheint, wird es ein guter Tag. Die Tage sind kalt. Tage für heißen Kaffee, heißen Tee oder heißen Kakao. Manchmal schaue ich in meinen Kalender und frage mich, wann eigentlich Sommer war? Was ist zwischen dem 26. Februar und dem 13. November passiert? Es muss viel gewesen sein. Vieles war schön. Schön, aber schmerzvoll in der Erinnerung. Ich erinnere mich an nichts und leb von dem, was ich erzählt krieg. Lösch meine Leere. Lösch meine Leere aus. (Fiva: "Schalldicht") Ich wollte die ganzen Lügen vergessen, all das, was versprochen, aber nicht eingelöst wurde; die vergessenen Versprechen, die so weh tun. Aber man sollte nicht alles vergessen. Die Momente, in denen man glücklich war, wegen einer Gegenwart und einer Zukunft, bedeuten Leben. Sie sich selbst zu rauben wäre schlimmer als Lüge, wäre Diebstahl. Lass mir wenigstens das, was wirklich geschah. I used to know these people, all those pictures you see that are people, wenn sie Wind nicht verwehen, wenn sie Trän' nicht verwischen, sie Licht nicht verbleicht, man, dann weißt du, sie bleiben ein Leben lang, sie haben großen Wert. Dies sind Erfahrungen, aus denen man lernt, wenn man sie sehen kann, sei es auch bloß im Schmerz, sind sie doch Wahrheit, aus der man was lernt. (Tua: "Bilder")
Manchmal werden die sonst so breit erscheinenden Bahnsteige eng und man sieht auf ihnen nicht mehr die Gegenwart, auch nicht die Vergangenheit oder Zukunft, sondern die Vergangenheit zukünftiger Tage. Der Rückblick auf ein weitergeführtes Leben steht wie in den Nebel geschrieben zwischen den Steinen. Eine sanfte Traurigkeit liegt über diesen Momenten, nicht unähnlich der Wehmut, mit der man nach der Lektüre eines Jane-Austen-Romans durch das heutige, so banal gewordene Bath gehen mag.
„Der eine Freund von dir ist mir zu depressiv.“ Ich musste lachen. Melancholie ist die Lederjacke meines Vereins (Prinz Pi: "Du bist"), aber Galgenhumor ist unser Ehrenabzeichen. Wir sind blind, stumm, abgefucked (Chakuza: "Blind, stumm, abgefucked"), aber wir wissen selbst, dass wir klar kommen müssen. Und wir könnten euch so viele Bilder zeigen. Wir malen eine Sonne auf den Boden und wenn wir uns drauf stellen, wird es wärmer. Wir wissen, dass wir viel zu jung sind für das Tränenmeer in uns, wir wissen, dass wir noch gar nicht so viel erlebt haben können, wie wir vergessen wollen. Wir sind 18, 19, 20. Wir suchen unsere Scherben, setzen sie zu neuen viel schöneren, viel kraftvolleren Mosaiken zusammen. Wenn wir einen Raum betreten, verändert er sich. Wir bringen Kraft, Schönheit und Jugend. Wir bringen Unschuld und echte Trauer. If you can achieve puberty, you can achieve a past. ("Steel Magnolias") Vergänglichkeit ist unser großes Schreckgespenst. Wir suchen das Leben zu fassen, bevor es uns durch die Finger rinnt, doch sind zu jung für fast alles, was uns zustößt. Wir tragen schon zu viele Narben. Zu viele Geister begleiten bereits unseren Weg. Wenn wir uns zusammen kauern und nach Dunkelheit schreien, damit uns niemand mehr sehen kann, scheint jugendliche Leichtigkeit so unendlich fern. Wenn ich einmal wieder lachen kann ohne mich dazu zu zwingen, ja dann lasst es krachen, denn dann macht für mich die Zukunft wieder Sinn. (Chakuza: "Ich wünsche") Die Suche nach unserem Lachen ist nicht optional. Der Wunsch nach einem guten, glücklichen und erfüllten Leben sitzt als antreibende Last auf unserem Rücken. Die spannende Frage ist, wie man ihn als Kameraden feiert. Dieses warme Sehnen könnte Einsamkeit und traurige Ungerichtetheit überwinden. Mit seinen Gefährten sollte man sich unterhalten, um herauszufinden, wohin der Wunsch einen schiebt. Wenn man sich mit seiner Sehnsucht anfreundet und ihre Richtung bestimmt, müsste es eigentlich möglich sein, sie davon zu überzeugen, vom eigenen Rücken herunterzurutschen und gemütlich nebenher zu laufen.
Ich mag meine dunklen Gefühle auch, meinen Schmerz und meine Traurigkeit. Hello darkness, my old friend, I’ve come to talk with you again. (Simon and Garfunkel: "Sound of Silence") Langeweile, Möpigkeit und ungerichtetes Downsein oder den Zwang zu warten möchte ich verbannen, aber Darkness should come with me as a treasured friend.
Wir haben unsere Leichtigkeit schon verlernt mit 18, 19, 20. Das kann nicht sein. Wir richten uns taumelnd auf, kämpfen gegen die Geister unserer kurzen Vergangenheit. Doch wir werden es schaffen. Wir werden heiter und stark, voll überschäumendem Tatendrang die Welt für uns erobern. Wir werden die Geister entweder wieder in wirkliche Menschen verwandeln oder verjagen. Love me or leave me and let me be lonely. (Nina Simone: "Love me or leave me") Besser alleine als mit dem ständigen Raunen ungestillten Verlangens und unvollbrachter Taten. Mein Gedächtnis ist mein Feind, denn mein Krieg ist im Kopf. (Chakuza: "Krieg im Kopf") Wir sehnen uns nach Körperlichkeit und Nähe, aber haben Angst davor, berührt zu werden. Wir wollen gewollt werden, doch wir fürchten Begehren. Wir wollen tanzen, trinken, uns verlieren um der ständigen Suche nach einem akzeptablen Selbst für einen Augenblick entbunden zu sein. Wir sind zu müde für die Hetzjagd, doch zu ruhelos für Frieden.
Ich bin kein Raucher. Aber der Weg zum Theater ist lang und wenn ich Marc Reis oder Lana del Rey hörend meine Kippe schmecke, fühle ich mich meinen Freunden und vielen langen Nächten mit ihnen wieder nah. Dann kommen Glaube und Zuversicht zurück. Nothing scares me anymore. (Lana del Rey: "Summertime Sadness") Die Kunst liegt darin, sich seine Kraft zu bewahren. Man braucht einen unangreifbaren Persönlichkeitskern, eine Essenz, die sich aus allen wichtigen Lebensbereichen speist und von Selbstzweifeln und Beleidigungen unangetastet bleibt. Ein innerstes Ich, das nur mir gehört und von anderen Menschen unabhängig ist. Es ist mein Herzschlag, der nach Hoffnung schreit. (Marc Reis: "Zerstör mich selbst") Wir werden es schaffen, frei zu kommen. Die Geister werden auf der Strecke bleiben, ich werde nicht mehr dieses Ziehen spüren, wenn jemand „:P“ oder doppelte Satzzeichen schreibt, mit Filmtiteln nichts mehr verbinden als die Filme. Trotzdem will ich die Blumen auf meinem grünen Hügel pflegen und mir die warmen Erinnerungen an einmal erlebte Zuneigung wach halten. Ohne Trauer. Always be pure, simple, happy, honest.
Wir sind ungestüm und ungeduldig. Wir wollen alles haben, weil wir wissen, dass wir es bekommen können. Wir wollen Glück, wir wollen Möglichkeiten. Schönheit und rasante Feuerwerke; neue Chancen, wenn wir weiter sind als damals, als wir es verpatzten. Wir wollen unaufhaltsam unterwegs sein und uns zwei Wochen nicht vom Fleck bewegen. Wir wollen lernen und die Uni schwänzen, wir wollen rauchen, trinken, tanzen und biologisch einwandfreies Gemüse anbauen. Wir wollen ein Haus bauen und Kinder, aber nicht jetzt. Wir wollen die ganze Welt in Besitz nehmen, aber nicht behalten. Wir wollen jeden Autor lesen, jeden Maler kennen, jedes Lied singen. Wir wollen uns verlieren um uns ganz zu finden. Wir wollen weinen und fühlen, wie Schmerz uns zerschneidet. Und wir wollen lachen. Lachen über die ganze Welt und am lautesten über uns. Wir wollen eine große Liebe.